Helmuth Renzler
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LIBERALISIERUNG: Grundsätzliches

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LIBERALISIERUNG

Grundsätzliches

 

Bis vor wenigen Jahrzehnten war die Welt noch überschaubar: es gab private Wirtschaftsektoren und öffentliche. Zu den privaten Sektoren zählten – außer in den sozialistischen Ländern – die Landwirtschaft, der größte Teil des Wohnungsbaus, das Handwerk und die meisten Industriebetriebe. Zu den öffentlichen Sektoren zählten – neben der öffentlichen Verwaltung, Polizei und Justiz – das Gesundheits- und Erziehungswesen  sowie die Anlagen im Verkehrssektor (Straßen, Häfen, Flughäfen). Auch Infrastrukturbereiche wie Wasser, Abwasser und Müll, Stromversorgung, Post, Telefon und Eisenbahn sowie der Bergbau waren meist in öffentlicher Hand. Diese überschaubare Einteilung wurde in Europa und in Italien seit den 60-er Jahren zunehmend verwässert. Schlagzeilen machten zunächst die Teilprivatisierung und später die gänzliche Privatisierung der Telekommunikationsdienste und der Post, dann die Zulassung privater Rundfunk- und Fernsehanstalten sowie privater Eisenbahnen und der Stromerzeugung und der Stromversorgung. Inzwischen gibt es in Europa und in Italien sogar mehr private als öffentliche Polizisten! Um dies zu verbergen, heißen sie natürlich nicht „Polizisten“, sondern Wachmänner oder Sicherheitsdienste und letzthin gänzlich neu „Ronde“ oder „Streifen“.

Ursachen:

Die Kommerzialisierung bzw. Privatisierung von öffentlichen Unternehmen wurde durch den Siegeszug der neoliberalen Richtung in den Wirtschaftswissenschaften verursacht, die häufig unter dem Schlagwort der Deregulierung oder auch Liberalisierung stand. Das Motto, das von den meisten Wirtschaftsvertretern, aber auch Parteien in die Gesellschaft getragen wird, heißt vereinfacht: „Der Staat und die öffentliche Verwaltung ist ineffizient – der Markt kann es besser“. Die „Verschlankung des Staates und der öffentlichen Verwaltung“ ist in aller Munde, und häufig werden der öffentliche Sektor bzw. der Staat und das Land hierbei regelrecht verleumdet. Die Deregulierungspolitik fand ihren Niederschlag zunächst in der Gründung des Binnenmarktes in der EU. Sie wurde dann fortgesetzt im GATS, dem Dienstleistungsvertrag der Welthandelsorganisation/WTO, der unter dem Einfluss starker Wirtschaftsverbände der EU und der USA erarbeitet wurde und 1995 in Kraft trat. Dort werden als eine von vier Dienstleistungsarten die Direktinvestitionen im Ausland behandelt, die häufig zur Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Körperschaften führen. Gegenwärtig wird sogar über eine weitere Verschärfung des GATS verhandelt.

Es gibt jedoch noch eine zweite Ursache für die Überführung öffentlicher Unternehmen in den Privatsektor – die Ebbe in allen öffentlichen Kassen und zwar in den Industrie- wie in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Dies ist wiederum die Folge davon, dass Großunternehmen und wohlhabende Privatpersonen infolge der Liberalisierung des Kapitalverkehrs nationale Grenzen nicht mehr zu beachten brauchen. Konzerne verlagern ihren Standort in Ländern mit den niedrigsten Steuern oder in Steueroasen, und alle Länder und Regierungen wetteifern um immer niedrigere Steuern auf Kapitalerträge. Globalisierung heißt eben auch Steuervermeidungs- und Steuersenkungswettlauf zwischen allen Ländern! Dies führt zu einem Abbau öffentlicher Leistungen in immer mehr Bereichen, was von manchen Bürgern begrüßt, von vielen aber mit heftigen Protesten begleitet wird (u.a. bei Einschnitten in Sozialleistungen).

Betroffen von der Privatisierung sind ins besonders Körperschaften und Unternehmen der wirtschaftlichen Infrastruktur wie Telekommunikation, Strom, Eisenbahn oder Wasser (früher als „natürliche Monopole“ bezeichnet), aber auch andere Bereiche wie Industriefirmen. Das sind alles Sektoren bzw. Unternehmen, die eigene Einnahmen erzielen und somit ohne (wesentliche) Subventionen auskommen können. Dies gilt nicht für die meisten Schulen und Hochschulen oder vielen Krankenhäuser, die aber, wie in England unter Margaret Thatcher, eventuell auch privatisiert werden und danach deshalb vom Staat oder dem Land regelmäßige, jährliche Zuschüsse erhalten müssen.

Kritik der Privatisierung:  

Warum nun die Kritik an der allgegenwärtigen Privatisierung?  Ist es nicht vorteilhaft, wenn Wettbewerb herrscht und die Allmacht bürokratischer Behörden durch Privatunternehmen in Schranken gewiesen wird? Haben nicht viele Behörden in Jahren mit hohen Steuereinnahmen Prestigebauten errichtet und es an einem effizienten Management fehlen lassen? Manchmal ja – aber das kann man auch abstellen, deswegen muss man nicht gleich den Ausverkauf öffentlichen Eigentums betreiben. Denn die Erfahrungen der Menschen mit Privatisierungen waren auch oft negativ: es kam zu Qualitätseinbußen, Preissteigerungen, bei den Mitarbeitern zu „prekären Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen“, zur Entlassung von Tausenden von Mitarbeitern usw. Dass Privatisierungen den Wohlstand steigern und den Bürgern zugute kommen, wird durch die Praxis immer neu widerlegt. Schlagzeilen geliefert hat etwa die Pleite mit der Privatisierung der englischen Eisenbahn, der häufige Stromnotstand in Kalifornien oder in Deutschland der Pfusch privater Labors bei Fleischtests auf BSE. Ein weiteres Beispiel ist die Privatisierung der Müllentsorgung in italienischen Städten, wo illegale Parteispenden, Kumpanei und Korruption einen undurchdringlichen Filz bildeten. Private Rundfunk- und Fernsehsendungen verlieren ständig an Niveau, vernachlässigen die objektive Information und haben dazu geführt, dass auch die öffentlichen Medien ihren Informations- und Bildungsauftrag vergessen.

Es gibt noch grundsätzlichere Einwände. Durch die auf die Privatisierung in der Regel folgenden Preiserhöhungen wird oft der Zugang sozial schwacher Bevölkerungsgruppen zur Versorgung erschwert oder ausgeschlossen.  Dies ist bei Grundbedürfnissen wie der Gesundheitsversorgung oder de Erziehungswesen nicht zu tolerieren. Oder was wird mit ArbeitnehmerInnen im Alter, wenn sie den monatlichen Beitrag zur privaten Zusatzrentenversicherung (Laborfonds usw.) jetzt nicht erübrigen können? Im Einzelnen stellen sich natürlich schwierige Fragen. Rechnen nicht Postbriefkästen, Schwimmbäder oder öffentliche Bibliotheken auch zur Daseinsversorgung der Bevölkerung? Ist es gerecht, wenn die Grundschule kostenlos ist, aber für kindergärten Gebühren erhoben werden und dauernd steigen? Sollen auch Volkshochschulen und Museen ihre Kosten allein decken und nur noch für Wohlhabende da sein? Was ist wenn Wasser, Gesundheit und Bildung zur Ware werden (wie nach dem GATS – Vertrag zu erwarten), aber die Armen die Ware nicht mehr bezahlen können? Verschiedene Organisationen und Wissenschaftler verweisen sogar darauf, dass die Menschen nicht nur Grundbedürfnisse haben, sondern Grundrechte. Dies ist im UN – Menschrechtsabkommen zum Schutz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von 1996 festgeschrieben, dem auch Italien (und somit auch Südtirol) beigetreten ist (so genannter Sozialpakt). Der Bürger muss seinen Anspruch auf eine bezahlbare und flächendeckende Grundversorgung behalten – sonst wird die Entwicklung zur Zweiklassengesellschaft noch verstärkt.

Gemeindeeigene oder Kommunale Betriebe werden häufig schrittweise privatisiert. Zunächst werden sie aus der Verwaltung herausgelöst und verselbständigt. Man bildet Eigenbetriebe und dann GmbHs, die nicht mehr gemeinnützig, sondern gewinnbringend betrieben werden. Ist dies gelungen, werden private Beteiligungen ermöglicht, oder die Einrichtung wird ganz verkauft. Dann gehört das Objekt nicht mehr der Gemeinde oder dem Land, und eine demokratische Kontrolle durch Gemeinderat, Stadtrat oder Landtag ist nicht mehr möglich. Die städtischen Vertreter im Verwaltungs- und Aufsichtsrat sind zuerst dem Unternehmensinteresse verpflichtet – und nicht mehr den Bürgern. Gleichzeitig wird damit die kommunale Selbstverwaltung eingeschränkt.

Schließlich geht es um die neutrale, unabhängige Erbringung von Dienstleistungen. Bereits heute sind private Sponsoren in europäischen und amerikanischen Schulen und Universitäten gang und gäbe geworden. Dafür werden natürliche Gegenleistungen erwartet und erbracht! Was ist wenn Coca-Cola demnächst unsere Schule gehört? Ob dann im Sachkundeunterricht weiter vor dem übermäßigen Genuss süßer Limonaden gewarnt wird? Die Freiheit der Forschung ist bereits heute tangiert, etwa in den Naturwissenschaften oder der Betriebswirtschaftslehre. Als der britische Professor Cormican die Bayer AG um finanzielle Unterstützung bei einem Forschungsprojekt bat, wurde er aufgefordert, vorher eine Erklärung zu unterzeichnen, wonach er seine Ergebnisse nur noch mit ausdrücklicher Genehmigung seines Geldgebers veröffentlichen würde. Ist die zunehmende Privatisierung solcher Kernaufgaben des Staates überhaupt mit der italienischen Verfassung und anderer Grundgesetze europäischer Staaten vereinbar?

Grundlegende Unterschiede zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Dies sind die folgenden:

  • Die öffentliche Hand ist dem Gemeinwohl, d.h. der Gesamtbevölkerung des Landes verpflichtet (oder sollte es sein) – Privatunternehmen aber sind nur der Gewinnmaximierung bzw. ihren Kapitaleignern, d.h. einer Minderheit, verpflichtet, zumal bei der dominierenden Rolle der Finanzmärkte (Shareholdervalue – Prinzip);
  • Privatunternehmen sind vielleicht effizient, aber auch sehr einseitig. Sie berücksichtigen meist nur wirtschaftliche, nicht aber soziale, Umwelt- und kulturelle Ziele (zumal bei dem harten Wettbewerb auf den Weltmärkten heute) – wenn sie nicht durch Gesetze oder Verordnungen dazu gezwungen werden.

Wegen dieser Unterschiede sollten die Kernaufgaben des Staates und des Landes dem öffentlichen Sektor vorbehalten bleiben. Bei den Parteien sind diese Unterschiede, diese Merkmale jedoch in Vergessenheit geraten. Viele Politiker lassen sich von der Behauptung der Wirtschaftsvertreter und verbände, die dienten doch dem Gemeinwohl, oder der Drohung, sie würden ihren Standort in andere Länder verlagern, immer häufiger beeindrucken bzw. erpressen. Dies haben in Südtirol einige Unternehmen (siehe Thun u.a.) deutlich gezeigt, praktiziert und zur Genüge bewiesen. Von Korruption soll hier gar nicht geredet werden. Sie liegt allerdings besonders nahe, wenn die Privatisierung durch Direktvergabe erfolgt, d.h. ohne eine Ausschreibung und ohne korrekte Auswertung der Angebote. Oder öffentliche Einrichtungen werden aufgrund fehlender Mittel, die die Politiker mit ihren staatlichen Steuersenkungen selber verursacht haben, zunächst kaputt gespart und dann privatisiert. Wann werden Regierungen entsprechend ihrem Anstand wieder die Interessen der Gesamtbevölkerung vertreten?

Neben dem vollständigen Verkauf öffentlicher Einrichtungen gibt es natürliche viele Mischformen der Kommerzialisierung bzw. der Public – Private – Partnerships: Managementverträge, Pachtverträge, Konzessionen, BOO

 Bzw. BOT- Verträge (buildown-operate bzw. build-operate-transfer) u.a. Sie unterscheiden sich durch die Dauer des Vertrages, die Art der Vergütung, die Verantwortung für Anlagenerweiterungen (Staat, Land oder Investor), für die Preispolitik, die Beteiligung der Nutzer u.a.m. Den verhandelnden Unternehmen, meist Multinationale Unternehmen, gelingt es dabei oft, ihre Kosten gering zu halten und die Risiken auf die öffentliche Hand abzuwälzen (siehe z.B. Thermenhotel in Meran). Allerdings ist festzustellen, dass auf Grund der Probleme in vielen Ländern Reformen teilweise gerechtfertigt waren: Bei den  – häufig stark überbesetzten – öffentlichen Körperschaften gab es oft Monopole, die tatsächlich durch Ineffizienz und mangelnden Service geprägt waren, und Subventionen flossen auch an Organisationen, die eigene Einnahmen erzielten und ihre Kosten hätten decken können (z.B. Strom, Telefon);

  • Es gab einen hohen Importschutz auch für monopolisierte Industriebetriebe, so dass die Preise für die heimische Bevölkerung mehrfach höher als der Weltmarktpreis waren;
  • Verkaufspreise wurden von Politikern ohne Rücksicht auf die Kosten festgelegt, was zu hohen Defiziten der öffentlichen Unternehmen führte;
  • Die Manager öffentlicher Banken vergaben häufig fragwürdige Kredite an Bekannte oder politische Freunde (Vetternwirtschaft).

Entscheidend ist, dass die früheren Privatisierungen ihrerseits mit erheblichen Nachteilen bzw. Mängeln behaftet waren:

  • Oft wurden öffentliche Monopole lediglich durch private ersetzt, ohne zugleich eine Wettbewerbspolitik aufzubauen, die Missbräuche wirtschaftlicher Macht bekämpft hätte;
  • Privatisierungen waren und sind häufig mit massiven Entlassungen verbunden – bei gleichzeitigem Fehlen jeglicher Arbeitsmarktpolitik;
  • Die Privatisierung war oft eine Folge verordneter massiver Budgetkürzungen, d.h. sie schwächte den ohnehin schon schwachen Staat, ohne ihn gleichzeitig in seinen unverzichtbaren Kernaufgaben zu stärken (Erziehung, Gesundheit, Unterhaltung der Infrastruktur u.a..);
  • Der erschwerte Zugang armer Bevölkerungsschichten zu den entsprechenden Gütern bzw. Dienstleistungen ist in der Postindustriellen Gesellschaft gravierender als in der Vergangenheit, weil der Anteil der armen Bevölkerung viel höher ist und stetig im ansteigen begriffen ist;
  • Privatisierung war und ist in den meisten Fällen identisch mit dem Ausverkauf von Volksvermögen an Ausländer;
  • Bei Vertragsverhandlungen zwischen den Regierungen schwacher Staaten und Länder und Investoren, meist Multinationale Konzerne, sitzen die Staaten und Länder fast immer am kürzeren Hebel.

Ganz besonders gravierend ist der erschwerte Zugang armer Familien zu Trinkwasser, Strom und Gasversorgung. Dadurch wird das wichtigste Grundbedürfnis bzw. Grundrecht, nämlich dasjenige auf bezahlbares Wasser, Strom und Energie, massiv beeinträchtigt.

Festzuhalten bleibt:

  • Dass ein naives Vertrauen in die Segnungen von Privatisierungen auf Grund bisheriger Erfahrungen nicht gerechtfertigt ist;
  • Dass Privatunternehmen im Gegensatz zur öffentlichen Hand nicht dem Gemeinwohl verpflichtet sind, zumal bei der absoluten Dominanz des Shareholdervalue-Prinzips und
  • Dass deshalb Kernaufgaben des Staates und des Landes bzw. die Bereiche der Daseinsvorsorge der Menschen von der Privatisierung ausgenommen werden sollten.

 

Grundrechte:

Grundrechte sind wesentliche Rechte, die Mitgliedern der Gesellschaft gegenüber Staaten und Ländern als beständig, dauerhaft und einklagbar garantiert werden. In erster Linie sind sie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und dem Land, sie können sich jedoch auch auf das Verhältnis der Bürger untereinander auswirken („Drittwirkung“).

Grundrechte werden, sofern explizit kodifiziert, in der Regel in der Verfassung formuliert. Grundrechte können auch in sonstigen Gesetzen enthalten oder durch völkerrechtliche Verträge vereinbart sein. So stellt etwa die Europäische Menschenrechtskonvention einen völkerrechtlichen Vertrag dar, welcher Grundrechte beinhaltet. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist bisher nicht in Kraft gesetzt worden.

Teilweise werden Grundrechte auch nur aus allgemeinen Rechtsprinzipien abgeleitet. Die Entwicklung der Grundrechte ist eng mit der Idee der Menschenrechte verbunden. Die Menschenrechtsidee wiederum findet ihre philosophischen Wurzeln in der Idee des Naturrechts wonach es „Rechtsgrundsätze gibt, die stärker sind als jedes positives Recht“ (Radbruch). Mitunter wird der Begriff der Menschenrechte auch abweichend verwendet. Als Menschenrechte werden dann etwa Grundrechte bezeichnet, die nicht nur staatsbürgerschaftsbezogen sind, sondern jedermann zustehen. Auch die supranationale Rechtsordnung der Europäischen Union erkennt neben den Grundfreiheiten Europäische Grundrechte. Sie sind bislang aber nicht schriftlich niedergelegt; die Charta der Grundrechte der Europäischen Union anderseits ist bislang nicht in Kraft getreten.

Bozen, den 12. Juli 2014                                                                                       Helmuth Renzler

                                                                                          

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